„Lass es werden, wie es wird“ – bis Helmut Jensen zu diesem Satz aus dem Taoismus fand, war sein Leidensdruck ins Unerträgliche gestiegen. Negativ-Stress mit allen seinen Folgen hatte ihn krank gemacht. Über die Jahre steigt das Arbeitspensum stetig. Die Wertschätzung aber, die der Leistung seitens der häufig wechselnden Chefs entgegen gebracht wird, fällt immer geringer aus. Nicht in erster Linie die finanzielle, sondern die ideelle Anerkennung fehlt – nicht nur ihm, auch den anderen Kollegen im Unternehmen. Hinzu kommt die Unsicherheit durch sich auflösende Arbeitsstrukturen. Dementsprechend schlecht ist die Stimmung, mit der sich alle gegenseitig anstecken.
Rückblickend kann Jensen genau analysieren, mit welch irrwitzigen Verhaltensweisen er versuchte, seine innere Balance wieder ins Lot zu bringen.
Zunächst, sagt der 57-Jährige, habe er sich selbst beschwindelt. Er habe nicht wahrhaben wollen, dass seine Leistungsfähigkeit nachließ. Ihm passierten Fehler. Um die wieder gut zu machen, um den anderen und auch sich selbst zu beweisen, noch „der Alte“ zu sein, zog er sich noch mehr Arbeit auf den Tisch. „Wer immer für zwei gearbeitet hat und jetzt für alle offensichtlich mit Leistungsabfall kämpft, tut sich wahnsinnig schwer damit, dieses Signal des Körper für sich anzunehmen“, sagt Helmut Jensen und dass dies ohne professionelle Hilfe kaum gelingen kann.
Inzwischen ist ihm sein eigenes Wohlbefinden wichtiger, als ständig den „Mister 130 Prozent“ zu geben. Denn eines müsse man sich ganz klar vor Augen führen: „Man hat nur dieses eine Leben, und jenseits der 50 wird es immer überschaubarer. Da sollte man sich schon ernsthaft die Frage stellen, in welcher Qualität man diesen Lebensabschnitt verbringen möchte.“
Unter professioneller Anleitung wurde Helmut Jensen klar, dass er nicht nur sein Arbeits-, sondern auch sein Freizeitverhalten zu überdenken hatte. Muss man im Wanderurlaub für jeden Tag eine andere herausfordernde Gebirgstour planen? Muss man sich reihenweise „anspruchsvolle“ Kulturerlebnisse vornehmen, auf die man sich auch noch intensiv vorbereitet?
Für ihn völlig neu ist nun das „Erleben“, dass weniger viel mehr sein kann. „Ich hatte versucht, den Stress im Job mit Freizeit-Stress auszugleichen“, ist die Erkenntnis von Helmut Jensen. Er schüttelt im Nachhinein den Kopf ob dieser Irrwitzigkeit. Auf seinen Gebirgstouren – jetzt ein paar „Etagen“ tiefer – erfreut er sich an der Wiederentdeckung von Pflanzen, von denen er vor Jahrzehnten im Schulunterricht hörte. Die sieht man nicht in wolkenumhüllten Bergeshöhen – die passende Metapher für ein Leben immer höher, immer schneller, immer weiter.
Inzwischen ist Jensen auch in der Lage, Genussmomente wie etwa den Saunagang oder das Joggen durch den Stadtpark auszudehnen und mit kleinen Annehmlichkeiten anzureichern. Und auch im Job ist das „Ausdehnen“ zum Thema geworden. „Es kostet mich noch Überwindung, meinem Chef zu signalisieren, dass ich noch zu tun habe, noch keine andere Aufgabe übernehmen kann“, sagt Helmut Jensen. Aber er hat mittlerweile festgestellt: „Es funktioniert.“ Sich selbst zu erlauben, für eine anspruchsvolle Aufgabe auch genügend Zeit in Anspruch zu nehmen, gehört zu den Strategien, die Jensen täglich „trainiert“.
Überhaupt erlebt er am Arbeitsplatz die überraschendste Reaktion auf sein verändertes Verhalten. „Von mir ins Vertrauen gezogene Kollegen sind achtsam und signalisieren mir sofort, wenn ich in meinen alten Ehrgeiz verfalle und komplizierte Dinge in sehr kurzer Zeit erledigen will“, sagt Jensen. Und der Chef bot von sich aus Gesprächsbereitschaft an. Mittlerweile ist ein positiv veränderter Duktus in seinem Führungsstil spürbar.
Zu den Einsichten von Helmut Jensen gehört: „Am gegenwärtigen Wandel der althergebrachten Arbeitsstrukturen kann ich nichts ändern. Ich muss sehen, dass ich mir eine positive Einstellung dazu schaffe. Ich male mir nicht mehr das Schlimmstmögliche aus, sondern überlege, welche Chancen für mich in solchen Veränderungen liegen können.“ Jensen übt sich in der taoistischen Haltung des „Geschehenlassens“ und ist inzwischen sogar freudig gespannt auf das Unbekannte, das womöglich noch kommt.