"Wechselnde Pfade, Schatten und Licht, alles ist Gnade, fürchte dich nicht!", ist eine Liedzeile, aus der ich Vertrauen nehme: Alles, was mir begegnet, führt mich zu mir selbst und zu neuem Leben. Auf wechselnden Pfaden kann ich wachsen“, sagt MBSR-Trainerin Bernadette Deibele.
Oase: „Nicht die Umstände bestimmen uns, sondern wir bestimmen die Umstände“ ist ein Goethe-Zitat und einer Ihrer Leitsprüche.
Bernadette Deibele: Ja, dieser Satz ist die Basis meiner Arbeit und drückt auch eigene Erfahrung aus. In meiner Arbeit als Altenpflegerin fühlte ich mich zunehmend unter Druck gesetzt durch neue Organisationsprozesse, mangelnde Reflexion der Arbeit und häufige Leitungs- und Personalwechsel, die viel Unruhe brachten. An einem bestimmten Punkt kam ich zu der Erkenntnis, besser für mich selbst sorgen zu müssen. Ich habe mich für ein Achtsamkeitstraining entschieden. Weil ich aber die Umstände nicht meinem persönlichen Wohlbefinden entsprechend ändern konnte, suchte ich neue berufliche Perspektiven – einen ganz neuen Pfad.
Oase: Sie haben eine MBSR-Ausbildung gemacht – Mindfulness-Based Stress Reduction, was bedeutet das?
Bernadette Deibele: MBSR bedeutet Stressbewältigung durch Achtsamkeit. Der Medizinprofessor Jon Kabat-Zinn hat dafür ein Trainingsprogramm entwickelt. Darin verbindet er überlieferte buddhistische Meditationspraktiken, achtsame Körperarbeit und westliche Psychologie. Es ist für jeden anwendbar, man muss kein Buddhist sein. MBSR wird auch wissenschaftlich erforscht und zeigt bedeutsame Ergebnisse.
Oase: Sie bieten jetzt selbst Kurse zur Stressbewältigung an. Aus welchen Lebenssituationen heraus kommen die Menschen zu Ihnen?
Bernadette Deibele: Jeder Kursteilnehmende hat seine bestimmten Erwartungen: gelassener oder selbstbewusster werden, mehr Lebensfreude empfinden, Klarheit gewinnen... Viele sind stressbelastet, weil sie zum Beispiel unter Spannungen am Arbeitsplatz leiden. Sie suchen einen Weg, sich im System zu arrangieren, um nicht krank zu werden. Ein anderer Teil meiner Kursteilnehmenden bereitet sich auf die nachberufliche Lebensphase vor und will ihr einen Sinn geben. Es melden sich auch Leute gezielt an, weil ich nach dem MBSR-Konzept von Jon Kabat-Zinn arbeite.
Oase: „Stress“ wird auch viel als Modewort benutzt, um seinem Tun Bedeutung zu geben. Was verstehen Sie unter Stress?
Bernadette Deibele: Stress ist ein Zusammenspiel von dem, was mich unter Druck setzt und meiner Reaktion darauf. In einem Stressbewältigungs-Kurs geht es darum zu vermitteln, wie man mit der Stress-Situation umgehen kann, ohne alle Aufmerksamkeit auf das Negative, Belastende, Unangenehme zu fokussieren. Auf dem Weg zur Arbeit beispielsweise können Sie sich schon gedanklich mit der Teamberatung beschäftigen oder mit dem, was Sie nach Feierabend noch alles zu erledigen haben. Da sind Sie dann Ihrer Zeit schon weit voraus. Sie können auch im Jetzt bleiben und auf die besondere Atmosphäre des beginnenden Tages achten, den Duft des Frühlings wahrnehmen ...
Oase: Sie sagen, dass Sie Kursteilnehmende haben, die Zugang zu ihren Gefühlen suchen. Haben wir generell verlernt, uns zu spüren?
Bernadette Deibele: Wir haben verlernt, dem eigenen Gespür zu vertrauen und stellen die Signale unseres Körpers hintenan. Oder wir tun nur kurzfristig etwas: eine Massage, ein Wellness-Wochenende .... Wir arbeiten auf den Urlaub hin, aber dann tritt die gewünschte Qualität des Erholens und Genießens nicht ein, weil der Körper keine Kraft mehr dazu hat. Im Achtsamkeitstraining werden solche Muster bewusst gemacht und neue Verhaltensweisen eingeübt.
Oase: Was beinhaltet die Achtsamkeitspraxis?
Bernadette Deibele: In den Sein-Zustand zu wechseln, ohne sich auf etwas zu fixieren. Ein Beispiel: Ich gehe in den Wald, um Pilze zu sammeln. Finde aber keine. Darüber kann ich mich sehr ärgern und in meinem Groll übersehen, was mir der Wald anderes schenken will. Ich kann aber auch offen sein für die Brombeeren, den Vogelgesang, den würzigen Duft des Waldbodens ... und dieses andere Angebot freudig annehmen. Wer achtsam durchs Leben geht, öffnet sich dem, was es bereit hält. Achtsamkeit zielt auf eine Bewusstheit, in der man sich nicht so stark mit seinen (Negativ)Gedanken und Gefühlen identifiziert. Die Kursteilnehmenden lernen, ihre Gedanken, Gefühle und Impulse zu beobachten. Sie gewinnen dadurch mehr Spiel-Raum für bewusstes Handeln. Achtsamkeit reduziert die Hilflosigkeit und führt zu Mitgefühl mit sich und anderen.